Wo wir stehen, was kommt und worauf es ankommt
Die Hälfte aller Unternehmen spricht in ihren Quartalsberichten über Künstliche Intelligenz. Tech-Giganten investieren Milliarden und Unternehmensberatungen erzielen bereits signifikante Umsätze mit der Implementierung von KI.
Doch während manche Unternehmen mit beeindruckenden Effizienzsteigerungen durch KI Schlagzeilen machen, herrscht bei vielen anderen noch Ratlosigkeit.
Fest steht: Generative KI wird in den kommenden Jahren praktisch alle Branchen transformieren.
Denn mit ihrer Fähigkeit, Sprache zu verstehen, zu übersetzen und zu generieren, kann KI die Produktivität und Qualität in Unternehmen enorm steigern. Vorausgesetzt, Mensch und Maschine arbeiten Hand in Hand.
„I believe the cost of getting to know AI—really getting to know AI—is at least three sleepless nights“, sagt Ethan Mollick, Wirtschaftsprofessor an der Wharton School, wo er Innovation und Unternehmertum untersucht und lehrt. Er ist einer der führenden Experten für die Auswirkungen von KI auf Arbeit und Unternehmen.
In der Tat: KI ist eine „jagged frontier“, eine zerklüftete Grenze mit vielen Unbekannten, die es zu erkunden gilt. Das erfordert Mut, Ausdauer – und den Willen, sich auf eine steile Lernkurve einzulassen.
Höchste Zeit, den Status quo zu analysieren und die Chancen zu ergreifen.
Von Ressourcenhunger bis zur Illusion des Bewusstseins
Der Siegeszug der generativen KI ist beeindruckend – und wirft zugleich eine Reihe von Fragen auf, die uns als Gesellschaft noch intensiv beschäftigen werden.
Da ist zum einen der enorme Ressourcenbedarf: Das Training von Large Language Models wie GPT-4 verschlingt riesige Mengen an Strom und Wasser – mit entsprechenden Auswirkungen auf Klima und Umwelt.
Auch der Zugang zu den nötigen Trainingsdaten erweist sich mittlerweile als Engpass: Oft sind sie nicht in ausreichender Qualität und Menge vorhanden oder aus Datenschutzgründen zurecht nicht nutzbar.
Mindestens ebenso schwer wiegen die ethischen Herausforderungen: Wie stellen wir sicher, dass KI-Systeme nicht die Vorurteile und blinden Flecken ihrer Programmierer übernehmen und diskriminierende Entscheidungen treffen?
Wie begegnen wir der Gefahr von Deep Fakes und der Verbreitung von Falschinformationen? Eine zeigt, wie dringend hier Aufklärungsbedarf besteht: Jede und jeder Dritte in Deutschland hat noch nie von Deep Fakes gehört, ein weiteres Drittel verfügt allerhöchstens über rudimentäres Wissen zu diesem Thema.
Das sollte uns alarmieren.
Und was, wenn die Illusion des Bewusstseins irgendwann so perfekt wird, dass wir nicht mehr unterscheiden können, ob wir mit einem Menschen oder einer Maschine kommunizieren?
Die Systeme zu vermenschlichen ist ein Riesenproblem.
warnt KI-Experte Fabian Westerheide, Organisator von “Rise of AI”, einer der größten KI-Konferenzen in Europa, die gerade zum 8. Mal in Berlin stattgefunden hat.
„Wir schreiben KIs ein Verständnis zu, das sie nicht haben, weil sie kein Weltwissen und keine eigenen Wertvorstellungen besitzen.“ Es gilt, sich stets bewusst zu machen: Auch die ausgefeilteste KI ist kein fühlender, moralfähiger Akteur – sondern ein statistisches Modell, das auf Grundlage historischer Daten operiert.
Generative KI auf dem Weg in den Unternehmensalltag
Die Entwicklung beschleunigt sich: Gefühlt im Wochentakt präsentieren Forschungslabore und Tech-Konzerne neue Durchbrüche, von multimodalen Sprachmodellen über KI-generierte Videos bis hin zu komplexen Planungs- und Reasoning-Fähigkeiten.
Viele Unternehmen testen die Technologie bereits in ersten Anwendungsszenarien. So setzt die Investmentbank Morgan Stanley GPT-4 ein, um vermögende Kunden mit personalisierten Anlageeinblicken und Empfehlungen zu versorgen. Der CRM-Spezialist Salesforce nutzt das gleiche Sprachmodell, um seinen Support bei der Beantwortung komplexer Kundenanfragen zu unterstützen.
Dennoch hinkt die Realität in den meisten deutschen Firmen dem Hype noch deutlich hinterher. Laut einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom setzen zwar bereits 3 Prozent der deutschen Unternehmen generative KI ein – doch für die große Mehrheit ist die Technologie noch Neuland.
Hindernisse auf dem Weg zum KI-getriebenen Unternehmen
In einer zunehmend von KI geprägten Welt ist es für Unternehmen zudem entscheidend, die Hoheit über ihre Daten, ihre Prozesse und ihre Werte zu behalten.
Doch die meisten der derzeit verfügbaren Systeme stammen aus den USA und reflektieren damit nicht immer eins zu eins unsere europäischen Vorstellungen von Privatheit, Transparenz und ethischer Verantwortung.
Umso wichtiger wäre es, dass die hiesige Wirtschaft verstärkt auf europäische KI-Lösungen setzt. Lösungen, die hier entwickelt werden, die unsere Sprachen und Kulturen verstehen und die unseren hohen Ansprüchen an Datenschutz und Nachvollziehbarkeit gerecht werden.
Die gute Nachricht: Viele europäische Startups und Forschungseinrichtungen arbeiten bereits an solchen vertrauenswürdigen KI-Systemen.
Jetzt gilt es, diese Ansätze gemeinsam weiterzuentwickeln und in die breite Anwendung zu bringen – damit Europa auch im KI-Zeitalter technologisch souverän bleibt und seine Werte selbstbewusst in die Welt trägt. Aber die Zeit drängt.
Was Unternehmen jetzt tun müssen
Wie können Sie systematisch über die Anwendung von KI in Ihrem Unternehmen nachdenken?
Stellen Sie sich zwei Kernfragen: „Was bieten wir an und wie können wir es mit KI verbessern oder völlig neue Angebote schaffen?“ und „Wie arbeiten wir und wie kann KI unsere Arbeit effizienter machen, um Kosten zu senken und Qualität zu steigern?“.
Beginnen Sie mit überschaubaren Anwendungsfällen, sammeln Sie Erfahrungen und weiten Sie den Einsatz schrittweise aus. Eine positive Lernkultur, die Raum zum Experimentieren lässt, ist dabei ganz wichtig.
So gelingt der Schulterschluss von Mensch und Maschine
Ein weiterer wichtiger Faktor, vor allem beim Einsatz von generativer KI, ist das Zusammenspiel von Mensch und Maschine. In seinem jüngsten Buch formuliert Ethan Mollick vier Leitprinzipien für die erfolgreiche Kollaboration, die ich voll und ganz unterstütze:
1.Always invite AI to the table. – KI immer miteinbeziehen.
KI sollte in allen Bereichen eingesetzt werden, um ihre Fähigkeiten und Grenzen kennenzulernen und zu verstehen, wo sie hilfreich sein kann oder eine Bedrohung darstellt.
2. Be the human in the loop. – Der Mensch bleibt in der Schleife.
Auch wenn KI immer fähiger wird, sollte der Mensch weiterhin die Kontrolle und Verantwortung behalten. Es ist wichtig, aktiv zu bleiben und nicht zu abhängig von KI zu werden.
3. Treat AI like a person (but tell it what kind of person it is). – KI wie eine Person mit eigener Identität und Fähigkeiten behandeln – aber als Mensch die Oberhand behalten.
KI verhält sich in vieler Hinsicht menschenähnlicher als andere Software. Es ist sinnvoll, der KI klare Rollen und Vorgaben zu geben, um ihre Fähigkeiten optimal zu nutzen. Dabei sollte aber immer im Hinterkopf bleiben, dass es keine echte Person ist.
4. Assume this is the worst AI you will ever use. – Davon ausgehen, dass dies die schlechteste KI ist, die man je benutzen wird.
KI wird sich rasant weiterentwickeln und verbessern. Was heute cutting-edge ist, wird bald veraltet sein. Es ist wichtig, offen für neue, verbesserte KI-Systeme in der Zukunft zu bleiben.
Ausblick: Ein Plädoyer für Gestaltungswillen statt Technikangst
Festzuhalten bleibt: Generative KI ist eine Macht, mit der wir rechnen müssen. Schon heute verändert sie die Art und Weise, wie wir kommunizieren, planen, designen und programmieren. Und es ist absehbar, dass praktisch jeder Geschäfts- und Arbeitsprozess über kurz oder lang von der Technologie erfasst und transformiert wird.
Für Unternehmen bedeutet das zweierlei: Zum einen müssen sie sich der Herausforderung stellen und proaktiv Strategien entwickeln, wie sie KI-Potenziale für sich nutzen können. Abwarten oder Zögern ist keine Option – denn die Konkurrenz schläft nicht und der technologische Fortschritt beschleunigt sich weiter. Wer jetzt die Weichen stellt, hat beste Chancen, seine Branche auch in Zukunft mitzubestimmen.
Zum anderen gilt es für Firmen aber auch, Verantwortung zu übernehmen für die Systeme, die sie einsetzen. Denn fest steht auch: Generative KI ist nicht per se gut oder schlecht – es kommt darauf an, wie wir Menschen sie entwickeln und nutzen. Unternehmen stehen in der Pflicht, sich über ethische Fragen wie Datenschutz, Fairness und Erklärbarkeit der Algorithmen Gedanken zu machen. Und sie müssen als Treiber des technologischen Wandels auch gesellschaftliche Effekte wie die Zukunft der Arbeit im Blick haben.
KI ist auch ein Spiegel der Menschheit, mit all ihren Stärken und Schwächen. Blinder Technikoptimismus ist ebenso wenig angebracht wie reflexhafte Maschinenstürmerei. Es liegt an uns, was wir darin sehen wollen – und was wir daraus machen. Die Technik gibt es nicht ohne uns. Aber es wird uns bald nicht mehr ohne sie geben. „Wir brauchen eigentlich eine Digitalwende“, konstatiert Fabian Westerheide. Ein Appell an Unternehmen, sich jetzt auf den Weg zu machen, die Potenziale der Technologie zu erkunden und die Chancen von KI für Wertschöpfung, Wachstum und Wohlstand voll auszuschöpfen – im engen Schulterschluss mit Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Packen wir’s an – mit Neugier, Umsicht und Zuversicht!
Jörg Müller
Jörg Müller ist ein erfahrener Digitalexperte, der bereits die Auswirkungen einer anderen disruptiven Technologie – dem Internet – auf Unternehmen sehr früh miterlebt und mitgestaltet hat. In seiner langjährigen Tätigkeit in einem Medienkonzern hatte er verschiedene Rollen inne, darunter Produkt Manager, Agile Coach und Innovation Manager. In dieser Zeit erkannte er bereits Anfang 2021 das enorme Potential von generativer KI und erforschte seitdem deren Einsatzmöglichkeiten. Heute berät Jörg Müller Unternehmen dabei, geeignete Anwendungsfälle für KI zu finden und pragmatische Lösungen auch für kleine und mittelständische Unternehmen zu entwickeln. Dabei legt er großen Wert auf die Aufklärung über die Fähigkeiten und Grenzen der Technologie.