Die folgenden Aussagen spiegeln meine persönliche Erfahrungen wider. Selbstverständlich gibt es eine ganze Reihe seriöser Übersetzungsunternehmen, die sich „Übersetzungsbüro“ nennen und damit sehr gut fahren. Auch als SEO-Experte kann ich das sehr gut nachvollziehen, da mit diesem Begriff sehr häufig nach Übersetzungen gesucht wird. Genaue Zahlen gibt es am Ende dieses Textes.
Das mag überraschen, aber als Leinhäuser 1997 an den Start ging, hatten wir keinen Marketingplan, keine Mission, keine Vision. Wir wussten nur eines: Wenn uns jemand fragte, was wir so machen oder wer wir sind, dann waren wir ein Übersetzungsunternehmen, vielleicht eine Agentur, aber wir sahen uns nie als Übersetzungsbüro!
Übersetzungsbüro – der Begriff im Wandel
Um unsere Haltung besser zu verstehen, drehen wir das Zeitrad ein wenig zurück – bis ins Jahr 1997, das Gründungsjahr von Leinhäuser.
Helmut Kohl ist seit 15 Jahren Bundeskanzler. Eine Zeit, die eher durch Stabilität als durch Innovation gekennzeichnet war. „Aussitzen“ war ein häufig verbreitetes Verb und „Innovationsstau“ wurde im Dezember 1997 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 1997 gekürt. („Wohlstandsmüll“ wurde Unwort des Jahres.) Die Gesellschaft wirkte ein wenig angestaubt.
Wer sich damals als Übersetzungsbüro bezeichnete, warb nicht selten mit dem Angebot „Alle Sprachen, alle Fachgebiete“. Für uns war das aus Qualitätssicht ein komplettes Unding. Wie sollte das gehen? Bei weltweit ungefähr 7.000 Sprachen stellten wir uns das kompliziert vor. Womöglich noch mit Vier-Augen-Prinzip und alles in die Muttersprache? Nie im Leben!
Von Modems und vom Umtüten
Es konnte also nur durch „Umtüten“ funktionieren. Wer mit diesem Begriff nichts anfangen kann, ist wahrscheinlich in den 90er-Jahren oder später geboren. E-Mail war 1997 noch nicht verbreitet. Wir arbeiteten damals mit Punkt-zu-Punkt-Modemverbindungen, um unseren Übersetzungstalenten die Aufträge elektronisch zukommen zu lassen.
Das war für die damalige Zeit schon ziemlich fortschrittlich. Wer so etwas noch nicht im Einsatz hatte, bekam die Übersetzung per Post in einem Umschlag zugesandt.
Eine Qualitätssicherung nach dem Vier-Augen-Prinzip im Sinne der heutigen EN ISO 17100 hätte damals bedeutet, den Text zumindest teilweise neu zu tippen. Das war umständlich.
Daher wurde das Dokument lieber in einen neuen Umschlag gesteckt und unverändert zu den Kundinnen und Kunden versandt. Es wurde also einfach nur umgetütet.
Von einer solchen Praxis distanzierten wir uns bereits damals. Lange bevor es eine Prozessnorm gab, war bei Leinhäuser die separate Qualitätssicherung durch ein zweites Augenpaar ein fester Teil des Übersetzungsprozess.
Die Schreibstube
Ein weiterer Grund, weshalb wir den Begriff „Übersetzungsbüro“ nicht besonders mochten, war die naheliegende Assoziation mit einer Schreibstube. Auch dies klang zwar recht gemütlich, aber doch ziemlich angestaubt.
In der Tat führte zum damaligen Zeitpunkt das Statistische Bundesamt die Anbieter von Übersetzungen unter derselben Ziffer wie Schreibdienste, also Sekretariatsdienste im weitesten Sinne.
Da taucht sofort das Bild einer Schreibstube vor dem geistigen Auge auf, meistens in Schwarzweiß, mit einer adretten Sekretärin mit einer flotten 60er-Jahre-Frisur.
Wir sahen (und sehen) uns als hochqualifizierte und hochspezialisierte Übersetzungsprofis. Wir arbeiteten weder in allen Fachgebieten noch in allen Sprachkombinationen.
Wir waren (und sind es heute noch) technologisch an der vordersten Front. Wir gehörten zu den ersten, die E-Mail einsetzten. Unsere erste E-Mail-Adresse war eine Zahlenkombination bei Compuserve, später dann AOL, kurz danach kam unser eigener Mailserver.
All dies passte nicht zu unserer etwas staubigen Vorstellung von einem Übersetzungsbüro.
Übersetzungsbüro oder Projektbüro?
Auch dies mag spitzfindig klingen, aber in unserer Vorstellung saß in einem Übersetzungsbüro eine beliebige Anzahl an linguistischen Fachkräften, die nichts anderes taten als, naja, halt übersetzen.
Für uns war von Beginn an klar, dass wir ein aktives Projektmanagement betreiben wollen und müssen, dass wir zwar übersetzen, aber dass das auch nur ein Teil des gesamten Prozesses ist. Unser Angebot an unsere Auftraggeber war in erster Linie eine Lösung für ein Kommunikationsproblem. Teil dieser Lösung waren unsere Übersetzungen. Aber eben auch das Projektmanagement und die Lektorate.
Wir setzten unsere gesamte Expertise ein, um diese Probleme zu lösen, und die im Rahmen dieser Lösungen angefertigten Übersetzungen waren ein Teil des großen Ganzen. Erstklassiges Projektmanagement, saubere Kommunikation in Richtung der Kundinnen und Kunden und externen Übersetzungstalente sowie tadellose Qualität waren unser oberstes Gebot.
Die Norm wurde zur Norm
Doch was ist eigentlich unter Qualität in der Übersetzung zu verstehen? Dieser Frage widmete sich die bereits 1996 veröffentlichte Qualitätsnorm für Übersetzungen DIN 2345. Sie fristete zu Beginn ein gewisses Schattendasein. Als 1998 der erste deutsche Verband der Übersetzungsunternehmen QSD ins Leben gerufen wurde (Leinhäuser war Gründungsmitglied), war eines der Hauptziele des Verbands, den Qualitätsgedanken bei deutschen Übersetzungsunternehmen weiter zu fördern.
Als Verband war der QSD dann auch im Spiegelkomittee des DIN-Instituts (unter anderem durch Heike Leinhäuser) vertreten, um die DIN 2345 in die DIN EN 15038 zu überführen. Die geschah 2006. Zwei Jahre später wurde diese dann durch die ISO-Norm 17100 abgelöst. ISO 17100 ist seitdem eine weltweit anerkannte Norm, die Prozesse von Übersetzungsdienstleistern festlegt. Sie ist somit im Gegensatz zur ursprünglichen DIN 2345 keine Qualitätsnorm, sondern eine Prozessnorm.
ISO 17100 schreibt verbindliche Best Practices für den Übersetzungsprozess vor und hat damit erheblich zur Professionalisierung der Übersetzungszunft beigetragen, denn so kann niemand mehr nach eigenem Gusto operieren, nur weil dies gerade für angemessen oder richtig erachtet wird.
Eine Zertifizierung wurde zur Norm. Es ist klar, dass ein kleines „Übersetzungsbüro“ den Aufwand und die Kosten einer solchen Zertifizierung kaum mitgehen kann. Auch deshalb halten wir den Begriff des Übersetzungsbüros in der heutigen Zeit für überholt.
Entwicklungstreiber Technologie
Einen wahrscheinlich noch stärkeren Einfluss auf den Wandel in der Übersetzungsbranche hatte neben der Einführung der Norm die Erfindung von CAT-Tools (CAT = Computer Aided Translations).
1984 wurde in Stuttgart die Übersetzungsagentur Trados ins Leben gerufen. Als die Gründer Jochen Hummel und Iko Knyphausen zehn Jahre später die erste Translator’s Workbench vorstellten, läuteten sie damit einen massiven technologischen Wandel in der Branche ein, dessen Ausmaß sie damals wahrscheinlich selbst kaum erwartet hatten.
Als Google 2006 den maschinellen Übersetzungsdienst Google Translate auf den Markt brachte, war die Übersetzungswelt schockiert. Der statistische Ansatz war revolutionär und bedeutete eine wesentlich schnellere Entwicklung neuer Sprachpaare, weil das Regelwerk (Grammatik) einer Sprache nicht mehr auf umständliche Weise in Code umgesetzt werden musste. Stattdessen konnten mittels riesiger zweisprachiger Sprachkorpora statistische Wahrscheinlichkeiten für die korrekte Übersetzung ermittelt werden.
Dieser Ansatz war ebenso einfach wie genial. Er löste auf einen Schlag eine Menge Probleme, an denen sich Generationen von Linguistikprofis seit den 60er-Jahren die Zähne ausgebissen hatten.
Die Einführung von Deep Learning und Künstlicher Intelligenz hat diesen Übersetzungsprozess noch einmal verbessert.
Vom Übersetzungsbüro zum börsennotierten Unternehmen
Die Branche hat sich in den letzten 25 Jahren massiv verändert und zwar in vielerlei Hinsicht zum Guten! Die steigenden Anforderungen der Kundinnen und Kunden haben zu einer Professionalisierung der Branche geführt, was nicht zuletzt einen Konzentrationsprozess ausgelöst hat, den es in anderen Branchen schon wesentlich früher gab.
Aus einem riesigen, weltweiten Markt, der über die Maßen fragmentiert war, bildete sich ein hochprofessioneller, standardisierter und technologisch weit fortgeschrittener Markt, dessen Player aufgrund ihrer Größe weiter in Technologie und Software investieren können.
Was vielleicht wirklich einmal als gemütlich anmutendes Übersetzungsbüro begann, ist heute in aller Regel ein Unternehmen geworden, das deutlich größer ist, als das vor zwei Jahrzehnten noch vorstellbar war.
Das derzeit größte Übersetzungsunternehmen Transperfect hat für 2022 einen Umsatz von 1,16 Milliarden US-Dollar bilanziert.
Spätestens jetzt wird klar, dass die Zeiten des Übersetzungsbüros vorbei sind. Dennoch scheinen potenzielle Auftraggeberinnen und Auftraggeber weiterhin nach diesem Begriff zu suchen.
Der Screenshot aus Semrush für den deutschen Markt macht das sehr deutlich.
Ist das reine Gewohnheit oder ein Imageproblem unserer Branche?
Immer wieder gewinne ich den Eindruck, dass der beauftragenden Seite bei der Platzierung von Übersetzungen und Editings die Komplexität der zu realisierenden Projekte gar nicht bewusst ist. Kaufe ich beispielsweise ein Smartphone, erwarte ich ebenfalls eine einsatzfähige Lösung, muss mich aber mit der Komplexität der Hard- und Software nicht auseinandersetzen. Dennoch ist mir zu jedem Zeitpunkt bewusst, dass das, was unter der Handy-Hülle verborgen ist, hochkomplex und damit auf gewisse Weise wertvoll ist. Diese Wahrnehmung ist im Umgang mit dem Sprachdienstleistungssektor nicht immer gegeben.
Wir sollten es uns daher zur Aufgabe machen, aktiv an unserem Image zu arbeiten. Wir sollten mehr nach draußen gehen und darüber reden, was Fachübersetzer und Fachübersetzerinnen tagtäglich leisten, um internationalen Handel in nahezu allen Branchen, grenzübergreifende Verständigung, kulturellen Austausch, Online Business, Tagungen, Diplomatie uvm. über Sprach- und Kulturgrenzen hinaus zu ermöglichen.
Aus meiner Sicht wäre ein erster Schritt schon damit getan, den Begriff des Übersetzungsbüros in den wohlverdienten Ruhestand zu schicken.
Udo Leinhäuser ist Co-Founder der Leinhäuser Language Services GmbH und war bis Ende 2012 geschäftsführender Gesellschafter. Seit seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen und der Gründung von iSEO.works ist er Leinhäuser Language Services weiterhin eng verbunden und arbeitet seither als Spezialist für SEO und Internationale Suchmaschinenoptimierung mit lokalen und internationalen Kunden. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich sehr intensiv mit KI und ihrem Nutzen bzw. ihrer Wirkung auf die SEO.