Das erste Treffen mit den neuen Mitbürgern ist schnell organisiert. Die Anmeldebögen des Kursträgers, der für uns die Lehrbücher organisiert, liegen bereit, die Tische und Stühle in der Bücherei der Grundschule sind aufgestellt. Als erstes treffen ein junges Paar mit Baby sowie eine Mutter mit zwei Kindern im Grundschulalter ein. Sie kommen aus Albanien, die Verständigung fällt nicht allzu schwer, mit Englisch und ein paar Brocken Italienisch ist man schnell im Gespräch. Wenig später trifft nun auch der Rest der Gruppe ein – junge Männer aus Syrien. Einige sprechen recht gut Englisch, der Großteil scheint mich allerdings gar nicht zu verstehen, denn als ich ihnen den Anmeldebogen hinhalte, schaue ich in sehr freundliche, aber auch sehr verständnislose Gesichter. Mithilfe der englischsprechenden Syrer erkläre ich, welche Angaben sie eintragen sollen, und erhalte dann auch die Bögen fein säuberlich ausgefüllt zurück – in arabischer Schrift.
Vor dem eigentlichen Deutschkurs steht also für den Großteil der Asylbewerber erst einmal das Erlernen des lateinischen Alphabets an. Zum Glück ist die ehrenamtliche Kollegin für die Parallelgruppe eine pensionierte Grundschullehrerin und übernimmt die Alphabetisierung, während ich mit den Albanern und denjenigen Syrern, die Englisch sprechen und schreiben, mit dem Deutschunterricht anfange. Über die ersten Kapitel – Begrüßung, Wie geht es Ihnen? usw. – lernt man sich besser kennen, entdeckt Gemeinsamkeiten, wo man sie nicht vermutet hätte, aber eben auch Unterschiede, die sich nicht so ohne Weiteres überwinden lassen. Von Anfang an fällt mir auf, wie höflich die syrischen Männer sind. Für jede Erklärung bekomme ich ein Danke, wie selbstverständlich halten sie Türen auf und tragen meine Tasche zum Auto.
Deutlich schwieriger gestaltet sich die Annäherung zur Dorfbevölkerung. Als ich eines Morgens meine zwei Großen in den Kindergarten bringe, winkt mich die Erzieherin beiseite. Ob das denn stimme, dass ich „den Asylanten“ Deutschunterricht gäbe. Ich bejahe und erfahre, dass sie direkt neben dem Asylbewerberheim wohnt und seit Tagen kein Auge zutut, weil die ganze Nacht über ein ohrenbetäubender Lärm aus dem Nachbargarten kommt. Ob ich ihnen vielleicht erklären könnte, was wir Deutschen unter Nachtruhe verstehen. Also frage ich nach der nächsten Unterrichtsstunde nach, was es damit auf sich hat. Die Erklärung ist denkbar einfach: Die Syrer feiern Ramadan, und das macht man nun einmal in geselliger Runde und gerne auch im Freien. Der Kindergärtnerin möchte ich das so lieber nicht erklären und bitte die Syrer, die nächtlichen Feierlichkeiten ins Haus zu verlegen. Nach den Sommerferien erzählt sie mir, dass es die letzten Wochen „relativ ruhig“ gewesen sei – ich werte das als Teilerfolg.
Leichter als die Flüchtlinge aus der arabischen Welt haben es die Albaner mit der Integration. Völlig selbstverständlich geht der junge Familienvater zum Training des örtlichen Fußballvereins, wird dort gut aufgenommen und spielt bald in der Stammmannschaft – die großzügige Geste des DFB, den Verein für jeden aufgenommenen Flüchtling zu sponsern, mag ihr Übriges getan haben. Das entscheidende Tor geht auf sein Konto, sein Heldenstatus wird nur noch durch seine Trinkfestigkeit getoppt, die ihm seine Vereinskameraden anerkennend attestieren. So läuft Integration auf dem Dorf…
Zum neuen Schuljahr – drei Monate sind mittlerweile vergangen – steht uns der bisherige Unterrichtsraum nicht mehr zur Verfügung und ich verlege den Unterricht in das Wohnheim, in dem die Flüchtlinge untergebracht sind. Mit der räumlichen verschwindet auch die zwischenmenschliche Distanz: Nach dem Unterricht übersetze ich Schreiben von Behörden, vereinbare Arzttermine und organisiere Babyausstattung. Im Lehrbuch sind wir beim Kapitel „Meine Familie“ angelangt. Ich erfahre, dass ein Großteil der jungen Männer aus Syrien ihre Familie zurückgelassen hat. In aller Eile mussten sie das Land verlassen, bevor der Einberufungsbefehl zum Kriegsdienst vollstreckt wurde. Außerdem hätten die Ersparnisse nicht gereicht, um die Reise für die ganze Familie zu bezahlen. Auch Nour, eine 19-jährige Syrerin, ist ohne ihre Mutter und ihre sechs Geschwister geflohen, nur ihr Vater ist mit ihr gekommen. Das Geld für die Schlepper hat nicht für die ganze Familie gereicht.
Die Flüchtlinge sind nun lange genug hier, um in Deutschland arbeiten zu dürfen. Theoretisch, denn ohne Deutschkenntnisse ist es fast unmöglich, eine Stelle zu finden, wie wir auch bei der Agentur für Arbeit immer wieder zu hören bekommen. Also versuchen wir, über unbezahlte Praktika den Kontakt zur Berufswelt herzustellen – bislang waren wir erfolgreich für einen syrischen Konditor, zwei Installateure und einen Chemiker. Drei junge Leute, die in Syrien ihr Studium abbrechen mussten, sind nun auf der Suche nach einer Ausbildung. Damit wollen sie die Zeit überbrücken, bis ihr Deutsch gut genug ist, um das Studium fortzusetzen.
Ende September bekomme ich von dem albanischen Paar eine Einladung zur Taufe ihrer kleinen Tochter – sie ist nur 6 Wochen jünger als mein Baby. Als ich in die Kirche komme, staune ich nicht schlecht: Neben den Albanern sitzen da auch fast vollzählig die Syrer, allesamt Moslems, und verfolgen andächtig die Taufzeremonie. Das freut mich besonders, weil das Zusammenleben im Wohnheim zwischen Albanern und Syrern nicht immer spannungsfrei ist. Nicht nur die Presse macht einen Unterschied zwischen Wirtschafts- und „echten“ Flüchtlingen.
Jetzt wo ich weiß, aus welchen Städten in Syrien meine Schüler kommen, verfolge ich die Berichte von dort besonders aufmerksam. Die Familie von Nour lebt in Aleppo, wo die IS-Kämpfer immer mehr an Boden gewinnen. Die Lage wird zu gefährlich, um einen geordneten Familiennachzug abzuwarten, und die Mutter muss sich mit sechs Kindern, das jüngste ist 3, allein auf den Weg machen. Drei Wochen später bekomme ich nachts eine Nachricht von Nour: „Meine family jetzt in Österreich.“ Mittlerweile ist der Asylantrag von Nour und ihrem Vater genehmigt worden, in wenigen Wochen müssen sie das Wohnheim verlassen. Die Familie möchte sich in der Nähe von Regensburg niederlassen.
Ende Oktober erhalte ich einen Anruf von der Volkshochschule. Sie organisiert in unserem Landkreis die Sprachkurse für Flüchtlinge. Nach den kürzlich verabschiedeten Änderungen am Asylgesetz besteht nun bereits während des Asylverfahrens ein Anrecht auf Sprachunterricht, und unser ehrenamtlicher Kurs soll in einen Intensivkurs mit 20 Wochenstunden umgewandelt werden. Meine Schüler waren begeistert, selbst dann noch, als ich den Unterrichtsbeginn auf 8 Uhr festgesetzt habe. Nächsten Monat geht es los, der Kurs soll acht Wochen dauern – ein erster Schritt, um die Flüchtlinge fit zu machen für ihre Zukunft in Deutschland.
Ab März nächsten Jahres wird Leinhäuser Language Services wieder spannende Projekte für mich bereithalten! Ich hoffe, dass ich auch dann noch Zeit zum Unterrichten haben werde. Auf jeden Fall aber möchte ich mit den Teilnehmern meines laufenden Kurses in Kontakt bleiben, von denen mir einige sehr ans Herz gewachsen sind.