Menschen, die in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsen, müssen eine besondere Herausforderung meistern: Ihr Gehirn muss ständig kontrollieren, welche Sprache gerade gesprochen wird und welche nicht.
Welche Wörter gehören zur aktuell verwendeten Sprache und welche müssen ausgeblendet werden? Welche Satzkonstruktion ist die aktuell richtige und welche muss unterdrückt werden? Dieser ständige „Konkurrenzkampf“ im Kopf trainiert die sogenannten exekutiven Gehirnfunktionen und führt dazu, dass zweisprachigen Menschen das Ausblenden von irrelevanten Informationen besonders leicht fällt.
Dass Zweisprachigkeit das Tor zu anderen Kulturen öffnet, ist bekannt. Doch Forschungen haben auch ergeben, dass sie sich positiv auf die kognitiven Fähigkeiten auswirkt. Was also sind die sprachlichen, kulturellen und sozialen Vorteile einer mehrsprachigen Erziehung bzw. von Mehrsprachigkeit?
Wir haben jene Kollegen bei Leinhäuser befragt, die es am besten wissen müssen: Sie sind entweder selbst mehrsprachig aufgewachsen, erziehen ihre Kinder mehrsprachig oder beides.
Sarah…
… wuchs bei einer englischen Mutter und einem französischen Vater in Frankreich auf. Ihre Eltern gingen nach der OPOL-Methode vor (One Person One Language), das heißt ihre Mutter sprach mit ihr immer Englisch und ihr Vater Französisch.
„Als Kind war es normal, dass ich Fehler in der weniger genutzten Sprache machte, aber meine Mutter, eine Englischlehrerin, hat mich immer korrigiert. Jetzt korrigiere auch ich die Fehler meiner Kinder.“
Menschen, die mehr als eine Sprache sprechen, sind oft gute Kommunikatoren, denn sie besitzen die Fähigkeit, intuitiv von einer Sprache in die andere zu wechseln. Sarah hat mehr als 10 Jahre in Deutschland gelebt, bevor sie in ihre Heimat Frankreich zurückkehrte. Dort lebt sie heute mit ihren beiden Jungs und ihrem Mann, der aus Bulgarien stammt. Sie versteht und spricht Bulgarisch, kommuniziert aber mit ihrem Mann vor allem auf Deutsch, das sie auch täglich bei der Arbeit nutzt. Man kann sie also getrost als mehrsprachig bezeichnen, doch wie wirkt sich das ständige Wechseln zwischen den Sprachen auf sie aus?
„Als ich in Deutschland war, begann mein Deutsch mein Englisch und mein Französisch zu überlagern, weil ich mich mit Kollegen und schließlich auch mit meinem Mann auf Deutsch unterhielt. Sowohl in Deutschland als auch jetzt in Frankreich spreche ich mit meinen Kindern immer Englisch, auch vor anderen, weil es so am wahrscheinlichsten ist, dass ich von jedem verstanden werde. Ich wechsle nur die Sprache, wenn jemand dabei ist, der mich nicht versteht. Das kommt aber selten vor und ist eine Frage von Respekt und Höflichkeit. Mein Mann und ich sprechen in unseren Muttersprachen, wenn die Kinder in der Nähe sind, und wechseln ins Deutsche, wenn sie nicht dabei sind.“
Ganz gleich ob eine Sprache in der Schule oder als Ergebnis einer multikulturellen Erziehung erlernt wird, eines ist gewiss: Der größte Vorteil der Mehrsprachigkeit ist die geistige Reife und die damit verbundene persönliche Entwicklung. Es ist die Erkenntnis, dass sich der eigene Horizont erweitert und man andere Kulturen und Menschen verstehen, schätzen und ihnen näherkommen kann, was sonst in dieser Form nicht möglich wäre.
Craig…
… wurde einsprachig erzogen und spricht jetzt vier Sprachen. Ihm ist wichtig, seine beiden kleinen Kinder zweisprachig zu erziehen und ein Umfeld zu schaffen, das dem Spracherwerb förderlich ist. Auch Craig und seine Frau gehen nach der OPOL-Methode vor. Er spricht mit seinen Kindern Englisch, seine Frau spricht mit ihnen Deutsch.
„Wenn mein ältester Sohn Englisch spricht, verwendet er manchmal deutsche Satzstrukturen und kämpft mit dem Vokabular, aber es fällt ihm leicht, zwischen beiden Sprachen zu wechseln. In seinem Kindergarten sind Kinder aus aller Welt, und ich bin froh, dass er auf diese Art schon viele unterschiedliche Sprachen und Kulturen kennengelernt hat und täglich mehrere Sprachen hört. Ich bin überzeugt, dass dies sein Leben bereichert, ihm zu einer weltoffenen Einstellung verhilft und ihn dazu ermutigt, sowohl seinen eigenen kulturellen Hintergrund als auch den anderer Menschen wertzuschätzen“.
Stimmen aus der Forschung sagen, dass der Erwerb einer zweiten Sprache ein Maß an Entschlossenheit und Einsatz erfordert, das man nur erreichen kann, wenn man sich mit der Kultur identifiziert, die diese Sprache hervorgebracht hat.
Paola…
wurde als Tochter einer italienischen Mutter und eines libanesisch-brasilianischen Vaters geboren und verbrachte ihre frühe Kindheit in den USA, bevor sie nach Brasilien und schließlich nach Deutschland zog. Obwohl sie Französisch, Italienisch und Englisch spricht, ist Portugiesisch ihre stärkste Sprache, und sie glaubt, dass dies kein Zufall ist.
„Wie gut ein Mensch eine Fremdsprache beherrscht, spiegelt seine Verbindung zu ihr wider. Ich glaube, dass Sprachen unbewusst Assoziationen wecken, etwa zu einer schönen Urlaubserinnerung. Mein ältester Sohn hatte zum Beispiel eine tolle Zeit in den USA, deshalb mag er Englisch besonders gern. Vielleicht hängt es also mit einem besonderen Erlebnis oder bestimmten Menschen zusammen“.
Paola hat zwei Jungs: Der ältere ist 18 (in Deutschland geboren, zwei Jahre auf einer amerikanischen Schule), der jüngere 11 (in den USA geboren, zweisprachige Schule). Die meiste Zeit haben sie in Deutschland gelebt, daher ist ihre stärkste Sprache Deutsch. Doch was ist mit ihrer ‚Muttersprache‘ Portugiesisch?
„Für mich ist ‚Muttersprache‘ die Sprache, die die Kinder in der Schule sprechen und an die sie die stärkste soziale Bindung haben. Deshalb ist ihre ‚Muttersprache‘ nicht Portugiesisch, obwohl ich ihre Mutter bin. In Portugiesisch machen sie Grammatikfehler. Ihre passive Sprache ist super, aber aktiv sind sie nicht so gut. Wir versuchen, ihr Portugiesisch mit Reisen nach Brasilien oder Treffen mit brasilianischen Freunden zu verbessern, aber natürlich wird Deutsch immer die stärkste Sprache sein“.
Ein zweisprachiger Mensch spricht seine ererbte Sprache nicht automatisch perfekt. Auch die Art und Weise, wie er damit in Berührung kommt, spielt eine Rolle. Die einzelnen Sprachfertigkeiten müssen in der Schule noch verfeinert werden. Findet zum Beispiel die Interaktion zwischen Eltern und Kind nur auf verbalem Wege statt, wird das Kind zwar auf muttersprachlichem Niveau sprechen und verstehen können, wohl aber Schwierigkeiten haben, die Sprache zu lesen und zu schreiben.
Eines ist sicher: In einer Gesellschaft, in der Menschen, die mit Akzent sprechen, oft mit Vorurteilen begegnet wird, fragen sich manche Eltern, ob sie mit ihren Kindern überhaupt in einer anderen Sprache sprechen sollen als dem Idiom ihrer Wahlheimat. Oft herrscht der (irrige) Glaube vor, es sei hinderlich für die Integration des Kindes und die Zukunft der ganzen Familie im neuen Land, wenn das Kind auch die Muttersprache der Eltern spricht. Doch die Vorteile einer zweisprachigen Erziehung wiegen weit schwerer als ein zunächst etwas langsamerer Lernfortschritt. Es muss jedem klar werden, dass Kinder, die in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsen dürfen, später als Erwachsene enorm im Vorteil sind – gerade in der globalisierten Welt, in der wir heute leben.
Sprichst du mit jemandem in einer Sprache, die er versteht, so erreichst du seinen Kopf. Sprichst du mit ihm in seiner eigenen Sprache, so erreichst du sein Herz.
Nelson Mandela